Gourmet-Wunsch-Ich
Genuss hat für mich seit geraumer Zeit die Bedeutung verloren und das nicht, weil ich nicht mehr die Wunschvorstellung von mir als Gourmet hege, der ein, sagen wir mal …, Lammcarré mit Polenta-Stick und Bohnen ansprechend auf dem Teller angerichtet, Häppchen für Häppchen genießen kann. Mir gelänge dann, dem feierlichen Anlass entsprechend, langsam zu essen, Messer und Gabel nach jedem Bissen abzulegen und den Aromen in meinem Mund Zeit zur Entfaltung zu geben. Der Vorgang wäre von Achtsamkeit und Dankbarkeit geprägt. Ich wäre nach der Mahlzeit gesättigt und zufrieden.
Meine Realität sieht jedoch anders aus. Würde ich vor einem solchen, übersichtlich auf dem Teller präsentierten, wenn auch hochkarätigen Mahl sitzen, wäre ich vermutlich von der Frage, wovon ich um Himmelswillen satt werden soll, so abgelenkt, dass es mir gar nicht möglich wäre auch nur an Achtsamkeit zu denken. Ich würde zuerst die Polente essen (weil, Kohlenhydrate), würde mich dann den Bohnen widmen (weil, Gemüse kalorienarm ist) und dann am (vermutlich mittlerweile erkalteten) Lamm knabbern; wobei ich mich vermutlich bereits nach dem Gemüse voll gefühlt hätte und mir damit das Lamm eh nicht mehr so attraktiv erscheinen wäre. Doch weil ich dafür Geld bezahlt habe, muss halt alles rein.
Nach dem Essen würde mir dann vermutlich der Magen wehtun. Denn, die Vorspeise wäre zu diesem Zeitpunkt bereits durch mich „gelaufen“ (ich kann zwar nicht viel auf einmal essen, aber ich habe kein Problem alle 30 min erneut etwas zu essen – ein, wie mir erklärt wurde, typisches Schlauchmagen-Problem), besonders dann, wenn das Restaurant sich mit dem Timing verkalkuliert und der Hauptgang mit großem Abstand zur Vorspeise kommt. Und der Nachtisch? He, schließlich gehe ich nicht jeden Tag essen, oder? Wenn schon, denn schon. Und Kohlenhydrate gehen immer und der, für mich benötigte, zeitlich Abstand wäre dann ja auch gegeben.
Wieder zu Hause wäre ich von mir auf verschiedene Art enttäuscht gewesen, etwa weil ich die von mir gewählte Ernährung nicht durchgehalten habe, ich im Grunde 3 Mahlzeiten (Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch) gegessen, das Lamm kalt war (und mir deswegen nicht geschmeckt hat, ich es aber trotzdem gegessen habe) und wegen des immer noch rasenden Hungergefühls (von dem ich lange nicht verstanden habe, woher es kommt), später zu Hause noch eine Tüte Chips geleert. (Okay, heute esse ich keine Chips mehr – ich wollte damit dem Beispiel nur eine Spitze aufsetzten.)
Ich hänge sehr an meiner Vorstellung eines Gourmet-Wunsch-Ich, ebenso wie an einem „intuitiven Esser-Wunsch-Ich“. Doch ich beginne langsam zu verstehen, dass für mich vermutlich immer eine Wunschvorstellung bleiben wird. Genuss und ich hatten wirklich keinen guten Start und es erscheint mir angebracht, wenn wir etwas Abstand voneinander halten.
kleiner Exkurs
Bei so etwas frage ich mich immer, wie es dazu kommen konnte, dass ich Genuss mit Völle und Überessen mit meiner bevorzugten Kombination (Kohlenhydrate+Fett) gleichsetzten konnte. Warum bin ich kein „normal“-Esser und warum fällt mir der „Gourmet“-Genießer so schwer?
Grundsätzlich sei jeder Mensch Verführbarkeit ausgesetzt, so die Hirn- und Kognitionsforscherin Dr. Susan Peirce Thompson. Doch nicht alle Menschen sind anfällig dafür; nicht alle Menschen, die Alkohol trinken werden abhängig von Alkohol, einige schon.
Thompson hält es für eine Heilung von Bedeutung, dass Betroffenen das Ausmaß ihrer Anfälligkeit verstehen. Nur dann können sie sich davon befreien und unbeschwert damit umgehen und in der Folge Regeln und Abstinenz akzeptieren. Auf Thompsons „Verführungsskala“ bin ich eine 10, mit Sternchen. Nicht weil Dr. Thompson das sagt, sondern weil ich mich kenne, stimme ich dieser Einschätzung zu. Ich bin leicht verführbar, unstet und mir fällt es schwer „dranzubleiben“. Wenn ich über mich sage, dass ich eine Veranlagung zur Sucht habe, dann fühlt sich das für mich wahr an.
Doch gehen wir noch weiter zurück: im Umgang mit meinen Gefühlen hatte ich schon immer große Probleme. Eine meiner Ur-Empfindungen ist, dass Essen meine Gefühle immer zuverlässig dämpft und zu beruhigen weiß (vor allem Süßigkeiten, also die hoch verarbeitete Kombination aus Kohlenhydraten und Fett). Laut den Untersuchungen von Dr. Robert Lustig hat sich das Gehirn bereits nach 3 Wochen an eine übermäßige Stimulierung angepasst und deswegen die Dopaminausschüttung nach unten reguliert. Das Fatale dabei nun, so Thompson, dass es von nun an mehr nicht darum gehe ein Hoch zu erzeugen, sondern in erster Linie ein Gefühl der Normalität. Für ein weiteres Hoch braucht es mehr und mehr. Ich würde heute sagen, dass ich damit meinen Suchtstoff gefunden hatte.
In diesem Zusammenhang fand ich eine Untersuchung, die Thompson aufführt, von Stice, Spoor, Bohon, Veldhuizen und Small (2008, Journal of Abnormal Psychology, Relation of reward from food intake and anticipated food intake) besonders spannend. Die Erkenntnis: das Gehirn von Adipösen (im Fall der Studie an 15jährigen Mädchen) reagiert mit deutlich mehr Vorfreude aufs Essen als bei Schlanken, doch wenn tatsächlich gegessen wird (in der Studie Schoko-Milchshakes) wurde der Genuss der Mahlzeit von den adipösen Probanden als geringer als in der Vorstellung bewertet. Das spiegelt auch meine Erfahrung wider. Es wird mit der Zeit nicht einfacher, sondern immer schlimmer.
Thompsons Lösungsansatz, den sie in ihrem „Bright line eating“-Konzept (Abnehmen mit Köpfchen) angibt, zuerst einmal muss das Gehirn heilen. Das „System“ muss „herunterregulieren“ und wegen seiner grundsätzlichen Anfälligkeit, von da ein Leben lang kontrolliert werden.
(Mehr zu „Abnehmen mit Köpfchen“)
Meine Intuition, die sich mit zahlreichen Erfahrungen aus meiner Vergangenheit deckt, sagt mir, dass das ich hier die reine Wahrheit finde und es für mich ein „Gourmet-Wunsch“-/“Intuitiver-Esser-Ich“ sehr wahrscheinlich nie geben wird. Ich beginne langsam zu verstehen, also wirklich zu verstehen, nicht mehr nur zu „fantasieren“, dass mein „normal“ aufgrund meiner Ess-Vergangenheit, ein anderes sein muss.
Dabei sei Abstinenz ein wichtiger erster Schritt, so Thompson, dann müssen jedoch die Schaltwege im Gehirn neu verdrahte werden. Das wäre jedoch nicht so einfach, weil es da noch den „Saboteur“ gebe. Damit habe ich auch endlich die muntere Stimme in meinem Kopf identifiziert, die unablässig fröhliche Geschichten erfindet und mir erklärt, warum es, doch bedauerlich wäre, wenn ich mir „Genuss/Völle/Süßigkeiten/gedämpfte Gefühle usw.“ versagen würde oder doch lieber erst am nächsten Montag erst damit anfange.
Nachdem Thompson für mich nun diese Stimme entlarvt hat, finde ich mehr und mehr Vergnügen daran „meiner Stimme“ ausschließlich Essen anzubieten, was es als deutlich unattraktiver beurteilt, zb. Keto Porridge ganz OHNE süßen Zusatz.
Und während „sie“ dabei zu Höchstform aufläuft, esse ich deutlich langsamer und entspannter, meine Wahrnehmung von Sättigung verändert sich und der permanente Stress in mir mehr (essen) zu wollen bleibt aus.
Aber schmeckt das auch? Ich kann feststellen – und finde mich hierin erneut bei Dr. Thompson bestätigt – ja, das tut es, wenn das Gehirn heilt, frei von Suchtstoffen ist und der Geschmack wieder unverfälscht. Doch wie soll ich das Durchhalten, Dr. Thompson? Die Antwort aus dem Buch: 100% Abstinenz von Suchtstoffen. Strikte Regeln. Keine Ausnahmen.
Okay, dass muss ich erst mal verdauen. Und bis ich so weit bin, wende ich mich zunächst dem zurück, was ich 2014 zu meinem Motto erklärt hatte „eat for energy, not for comfort“ und ernenne mich zum „Energie-Gourmet“ und messe den Genuss eines Essens, mit der, in mir entstandenen Energie – damit Essen die Bedeutung von Unterhaltung verliert und zur Aufnahme von Nährstoffen zur Erhaltung der Lebensenergie werden kann.
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