Therapeutische Minimal-Bevorratung
Minimalismus
Wie ich mich von Dingen befreie - und irgendwie alles mit meinem Verhältnis und Verhalten zum Essen zu tun hat.
Ich habe die letzten Tage damit verbracht auszumisten. Und zwar kreuz und quer durch meinen Hausstand. Wohin auch immer gerade mein Blick hingefallen ist oder was meine Aufmerksamkeit geweckt hat, ich habe es in die Hand genommen und mich gefragt, wann ich es das letzte Mal benutzt habe, ob ich es doppelt habe oder durch etwas anderes (was ich behalten will) ersetzten kann und ob ich es noch brauche (und wofür).
Und wie das so oft bei solchen Sachen ist, scheinbar aus dem Nichts, hat mir youtube jede Menge Videovorschläge zum Thema Minimalismus hoch gespült. Das hat ausnahmsweise mal in erster Linie nichts mit einem klugen oder geschäftstüchtigen Algorithmus von youtube zu tun, sondern, und hier hat mir mein soziologischer Sohn ein Stichwort gegeben, mit „Priming“.
Dazu wikipedia.org: Der Begriff Priming bzw. Bahnung bezeichnet in der Psychologie die Beeinflussung der Verarbeitung (Kognition) eines Reizes dadurch, dass ein vorangegangener Reiz implizite Gedächtnisinhalte aktiviert hat.
Und weil ich mir des Gefühls nicht erwehren kann, dass hinter alledem, also dieser neuerlichen und den vielen davor gegangenen Ausmist-Aktion, ein tieferer Sinn stecken muss, bin ich noch ein wenig mehr auf der „Priming“-Welle durchs Netz gesurft.
Und bin über Minimalismus, Konsum(sucht), Müllvermeidung, nachhaltigen und alternativen Lebensweisen und zig andere Themen, bei der Hirnforschung gelandet. Eine Hirnforschung, die sich damit beschäftigt, warum wir uns fast schon verzweifelt dem Konsum hingeben (und, und das ist die erschreckendste Erkenntnis überhaupt, auch ich bin so ein Konsumopfer; wo ich mich doch immer so erhaben darüber gefühlt habe!) und uns ablenken, anstelle uns auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben konzentrieren zu können.
Und dann ist ein Stichwort gefallen, das auf den ersten Blick so überhaupt nichts mit Konsum zu tun haben scheint und mir doch auf einmal so viel Verstehen geschenkt hat: (viel) Gewicht abnehmen ist auch (ge- und erlebter) Minimalismus.
Und auf einmal war ich wieder am Anfang und konnte endlich den roten Faden erkennen, der sich, seit ich beschlossen habe, mein Gewicht zu minimieren, durch mein Leben zieht: Befreiung. Ich bin dabei mich von Dingen zu befreien. Wobei ich „Dinge“ hier im weitesten Sinne des Wortes nutze und es mehr als Synonym steht, denn als Beschreibung.
Gewicht. Ernährung. Leben. Freunde. Familie. Wohnort. Äußerer Hausstand, Stichwort Wohnwagen. Auto(s). Hobbys aka Aufgaben und Verpflichtungen. Innerer Hausstand, Keller, Kleiderschrank, Wohnung. Usw. Und die Tage ist es dann meinen Lebensmittelvorräten an den Kragen gegangen.
Nein, das ist nicht ganz richtig. Etwa vor einem halben bis dreiviertel Jahr bin ich in diesem Punkt schon mal recht gründlich vorgegangen und dies war nun die zweite Runde. Damals sind zb. alte Nussmehle, die ich unbedingt haben musste, aber nie genutzt und die schon etwas verdächtig, nämlich ranzig, rochen, aus dem Haus geflogen und ich habe alles zum besseren Überblick, in dem 60 cm tiefen Schrank, in Schubfächer verpackt.
Nun waren es Nudeln, Mehl und Zucker (was ich noch vor 2014) gekauft hatte, sowie eine bunte Auswahl an so furchtbar schmeckender kalorienfreien Flavours und Saucen, das ich sie einfach keinem anderen Menschen weitergeben mochte. (Und eh, diese Hollandaise von Tommy, da auf dem Foto, ich glaube die könnte auch mal weg. Die dürfte ebenfalls noch aus der Zeit stammen.)
Aber das war eigentlich die leichteste Übung. Viel mehr erschreckt hat mich, als ich die Tatsache erkannt habe, dass ich zu einer übermäßigen Lebensmittelvorratshaltung neige.
Jetzt wird es ein wenig kompliziert. Denn es ist selbstverständlich durchaus sinnvoll eine kluge und geschickte Lebensmittelbevorratung zu betreiben. Natürlich auch allein schon wegen des anfallenden Portos, wenn man seine Lebensmittel, aus Kostengründen oder weil man sie vor Ort nicht angeboten bekommt, online bestellen muss.
Allerdings fühlt es sich für mich, das was ich so betreibe, viel mehr zwanghaft, als sinnvoll an.
Schon mal Nachschub zu kaufen, wenn das Vorratsglas praktisch noch voll ist, nur damit etwas da ist und mir das Lebensmittel nicht ausgeht (dabei ist es völlig egal um, was es sich handelt und wie oft ich es benötige) – allein bei dem Gedanken daran, etwas könnte mir ausgehen, bekomme ich Schnappatmung – hat nichts mehr mit kluger Vorratshaltung zu tun.
Sondern mit der krankhaften Vorstellung, dass es einer Katastrophe gleicht, wenn die Haferkleie, das Backpulver, die sauren Gurken oder der Apfelssig (weil dann müsste ich ja, Balsamico Essig nehmen) einmal ausgeht.
Wenn ich mir also die Aufgabe gestellt habe, Vorräte erst dann wieder aufzufüllen, bzw. nachzukaufen, wenn sie tatsächlich leer sind und ich sie auch wirklich gebraucht hätte, weil ich sie nicht durch andere vorhandene Vorräte habe ersetzen können, dann hat das eher mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Suchtverhalten zu tun, als mit der Bevorratung von Lebensmittel.
Und es ist schwer. Es ist so unglaublich schwer, abzuwarten und das letzte Paket Quark aus dem Kühlschrank schwinden zu sehen, bevor man neuen einkauft. (Kaum zu glauben, dass so was bei mir jemals passieren könnte! Siehe Beweis-Foto.) Oder die Götterspeise nicht gleich in drei Geschmacksrichtungen zu kaufen, wenn man nur eine mag oder sie erst in 6 Monaten nutzten wird.
Das muss aufhören. Also das mit dem „Zwanghaft“ muss aufhören. Ich habe das Gefühl, dass es sehr heilsam für mich sein könnte, wenn ich lerne, dass die Welt nicht untergeht, wenn ich mal eine Nacht keinen Quark im Kühlschrank habe. Schließlich habe ich auch gelernt, dass ich mein Gewicht gar nicht so sehr brauche, wie ich immer gedachte habe. Die Welt ist nicht untergegangen, als ich keine Meterdicke schützende Fettschicht mehr hatte. Tatsächlich ist das Leben so viel einfacher und so viel besser geworden. Und wenn ich diese Erfahrung in meinem Kopf umpolen konnte, dann muss das doch auch mit dem Hamstern von Lebensmitteln funktionieren?
Und in der Folge auch mit dem Konsum zu „Dingen“; womit wir wieder beim Minimalismus wären.
Ich habe mein Gewicht abgegeben und lernen können, welche unglaubliche Befreiung darin steckt. Ich habe mein Leben und meine Lieblingsmenschen hinterfragt. Und auch wenn es ein schmerzvoller Prozess war und immer noch ist, so hat er mich doch bisher nur Gutes geschenkt.
Meiner Meinung nach ist es nun eine natürliche Weiterführung dieser Entwicklung auch alles andere infrage zu stellen. Ich bin nun also ein Minimalist. Und es ist schon amüsant, dass man das manchmal erst erkennt, wenn youtube einem das sagt, bzw. entsprechende Videos vorschlägt.