Das neue 75
Mit dem Einstieg in die Adipositas-OP war mein ganz privates Ziel 75 kg zu erreichen. Dabei war mir durchaus klar, dass das bei einem Ausgangsgewicht von 192 kg kein einfacher Weg werden wird. Realistisch zu sein, wie mich meine Ärzte ermahnt haben, kam für mich überhaupt nicht infrage. Das war aber auch kein Problem für mich, die Motivation der Anfangsjahre war hoch, alles war so einfach und alles war möglich. Ich wollte. Punkt. Keine Diskussion.
Erst nachdem ich so langsam wieder auf den Boden getrudelt bin, nachdem die Party vorbei war und „ich einfach nur noch ich war“ und erkennen musste, dass mein neues-ich auch immer noch mein altes-ich war, “The confetti has stopped falling. The crowds have cleared out of the stands. The pep band is packing away their instruments.“, wie es in Connie Stapletons „Thriving!“ so passend von einer Patientin beschrieben wird, kamen mir erste stille Zweifel an meinem Wunschziel. Zumal ich schon auf dem Weg nach unten erkennen musste, dass ich mich hier womöglich in einem Gewichtsbereich bewege, der mir zunehmen Probleme bereitet.
Das alte 75
Rückblickend frage ich mich, ob diese ersten Zweifel womöglich schuld daran waren, dass ich es tatsächlich nur einen einzigen Tag auf 86 kg geschafft habe und postwendend wieder mit dem Gewicht nach oben gegangen bin? Oder lag es meiner krankhaften Fixierung auf Kalorienreduktion, Sport und Waage, die ich in meiner Diät-Karriere entwickelt hatte und in deren Abwärtsspirale aus Abhängigkeit und suchtartigem Verhalten, die mir damals als normal erschien?
Auch die Kritik, die mir entgegengeschlagen ist und die mich damals total überrumpelt hat, habe ich im Verdacht Ursache für meinen Gewichtsknick nach oben zu sein. Ich kam nicht damit zurecht, dass Vertraute meinen Gewichtsziel-Wunsch abgewunken und belächelt haben (und das als kumpelhaften und freundschaftlichen Rat verstanden haben), mich als undankbar getadelt (schließlich hätte ich schon so viel erreicht und sollte endlich einmal dankbar sein) und mich immer wieder vor den Folgen meines Zieles gewarnt (passt bloß auf, dass du nicht Magersüchtig wirst). Ich war schlicht auf diesen Aspekt nicht vorbereitet.
Heute erkenne ich meine jahrzehnte-lange Fixierung auf eine Zahl auf der Waage, ungeachtet körperlicher und geistiger Umstände, als problematisch. Auch weil ich heute weiß, dass ich mit meinem Willen, so ausgeprägt er auch sein mag, nicht gegen die Signale (aka Hormonlage) meines Körpers und Geistes ankommen kann. Trotzdem gibt es ihn immer noch, den Anteil in mir, der stur an dem Glauben festhalten will, dass ich jedes Gewicht erreichen könne, was ich will. Und vielleicht ist das ja auch gut so – irgendwie.
Ich habe bereits mehrfach darüber berichtet, dass ich vor einer Weile von der Waage gestiegen bin, die Waage entsorgt habe und dass seitdem keinen Tag bereut habe. Trotzdem komme ich nicht gänzlich umhin hin und wieder auf eine Waage zu steigen, etwa bei der Aufzeichnung gesundheitlicher Daten beim Arzt. So auch bei meinen jährlichen Blutuntersuchungen.
In diesem Jahr hat mich erfreulicherweise keine Angst vor der Zahl auf der Waage begleitet. Stattdessen schoss mir die Frage in den Kopf woran sich eigentlich mein Wunschgewicht orientiert hat. Woher kommt diese Zahl in meinem Kopf? Warum 75 kg? War sie doch so unrealistisch, wie mir vermittelt wurde? Schließlich bin ich nach offiziellen Studien und der Aussage meiner Ärzte heute gewichtstechnisch genau dort, wo die Statistik mich sieht. Und was ist, wenn meine Wahl körperlich oder seelisch gar nicht zu mir passt?
Die 75 kg standen für mich als ultimatives dünn. Wie verquer meine Vorstellung damals war, zeigt, dass ich tatsächlich dachte, dann in Kleidergröße 46 zu passen – was in meiner Vorstellung perfekt wäre: Größe 46 habe ich mit 95kg getragen.
Ebenfalls in meiner Wahl bestätig fand ich mich durch meinen Arztbrief vor OP, der bei einer Körpergröße von 1,76m von 76 kg ausgegangen war. Die (damals?) übliche Standard-Rechnung also, Körpergröße in cm -100.
Wie ich es auch gedreht habe, ich konnte kein Problem mit meiner Wahl finden. Dass mein Körper, nach dem vielen Jahres des Übergewichtes vielleicht gar nicht mit diesem Gewicht zurecht käme, das habe ich in meine Überlegungen nie miteinbezogen. Tatsächlich hat mich die Fixierung auf die Waage im Verlauf meiner Abnahme großartige Veränderungen übersehen lassen. Auch hier hatte ich zwar die Mahnung im Ohr, dass gesund und fit das Ziel ist und nicht so dünn wie möglich, doch viele Jahre war nur letzteres von Bedeutung für mich. Ein deutlich höheres Gewichtsziel zu akzeptieren, erscheint mir als Versagen, als Feigheit vor dem Feind – der übliche Mist eben, der so lange meine Gedanken geprägt hat.
Das neue 75
Seit einer Weile arbeite ich an einer „neuen 75“. Auch wenn ich nicht immer verhindern kann, dass sich die alte hier und da einschleicht, so beginnen sich doch gleichzeitig andere Definitionen in meinem Kopf zu formen.
Beweglichkeit, die mich so einfach wie möglich vom Boden aufstehen lässt. Auf dem Laufband zu joggen, ohne dass ich meine Knie merke. Mich so zu ernähren, dass Ruhe in meinem Kopf herrscht und meine Verdauung dabei so optimal wie möglich läuft. Nicht mehr negativ in meinen Gedanken über mich zu urteilen, den Schlaf zu finden, der sich erholsam für mich anfühlt und mit Stress so umgehen zu können, dass er mich nicht mehr überwältigt. Sport und Bewegung oder Mahlzeiten nicht mehr mit Kalorien gegenzurechnen. Konsistenz über Perfektion zu setzten.
Interessanterweise finden sich hier genau die gewichts-unabhängigen Ziele, die auch die Mayo Clinic definiert:
Drink more water.
Get more sleep.
Be more flexible with your nutrition.
Incorporate resistance training into your exercise routine.
Do more of what makes you happy.
Cut out the negative self-talk.
Aim for consistency over perfection.
Learn something new.
Eat Mindfully.
Control your food environment.
Dr. Joan Ifland (Processed Food Addiction: Foundations, Assessment, and Recovery), deren Wissen ich sehr schätze, fügt dem als Ziel noch hinzu:
„GET the scale OUT OF THE house.“
Ernährung vereinfachen.
Nicht fasten (im Sinne von einem oder mehreren Tagen, dahinter kann ein Suchtverhalten stecken, im Sinne von sich Hungern lassen, als Bestrafung nach einem Binge); auch nicht regelmäßiges und dauerhaftes intermittierendes Fasten (stattdessen: gelegentliches Überspringen von Mahlzeiten, wenn der Hunger fehlt oder „Heilung“ einzusetzen beginnt, wenn das Mikrobiom im Gleichklang ist, das Essverhalten über einen langen Zeitraum stabil ist).
No fishing for compliments. Eine Abnahme nicht feiern. Nicht kommentieren und auch keinen Lohn dafür einfordern wollen. Vielmehr den Fokus von Optik (der Figur) zur reibungslosen und fehlerfreien Funktionalität (von Hand, Bein, Magen usw.) lenken.
Sich in Geduld und Motivation üben, Tag für Tag für Tag, Monate, Jahre, ein Leben lang.
Da scheint also was dran zu sein. Beweglichkeit, Ausdauer, Gelassenheit und Freude daran, etwas Neues zu lernen. Lebensziele fernab einer Gewichtsangabe – Gedanken, die sich für mich gut anhören und anfühlen.
Quellen:
www.dahlc.mayoclinic.org/2018/01/18/10-non-weight-loss-goals-worth-setting
www.drjoanifland.com