Kalorienzählen
Es gibt viele gute Gründe, die dafür sprechen das Kalorienzählen Unsinn ist. Etwa weil außerhalb eines Labors keine korrekte Messung möglich ist, weil kaum je 100 g eines (gilt in der Hauptsache für: natürliche) Lebensmittels die dieselbe Makronährstoffzusammensetzung haben, weil „eine Kalorie eben nicht ist eine Kalorie“ (trotz den physikalischen Gesetzen der Thermodynamik) und weil der menschliche Körper kein Motor ist oder zumindest keiner der immer gleich rund läuft.
Dazu kommt das man selber seinen korrekten Energieumsatz, der nur im Labor ermittelt werden kann, in den meisten Fällen nicht kennt und auf Energieumsatzrechner angewiesen ist. Es wird angegeben, dass diese bis zu 95 % ein annähernd realistisches Ergebnis liefern, so weit so gut. Doch wer je zwei oder drei verschiedene Energierumsatz-Rechner ausprobiert und verglichen hat, weiß um die Diskrepanz. Ich etwa konnte zwischen 2300 kcal und 2800 kcal den Rechner raussuchen, der mir am besten passt.
Ich könnte noch eine Weile so weitermachen und dabei habe ich die seelischen Qualen, in die man sich mit obsessivem Kalorienzählen stürzen kann, noch nicht einmal erwähnt.
In jungen Jahren habe ich einmal mit Kalorienzählen, auf Grundumsatz-Niveau, 30 kg abgenommen und mich von 125 kg in den uHu geschafft. Es besteht keine Frage, dass von dem Moment an, an dem ich nicht mehr auf meine Kalorien geachtet habe, sondern wieder so gegessen haben wie vorher (als ich immer dicker wurde), ich umgehend wieder ordentlich zugelegt hatte und zwar bis rauf auf 140 kg.
Heute weiß ich, wo der Fehler lag, nämlich darin, dass ich nach der Abnahme nicht bedarfsgerecht, also für ein Körpergewicht von 95 kg gegessen habe, sondern locker wieder für den Bedarf meines alten 125 kg-Körper, und mehr. Ich habe wieder „normal“ gegessen und „normal“ war nun halt mal zu viel (sonst hätte ich ja keine 125 kg gewogen und auch keine 200); was im Übrigen das ganze „Geheimnis“ des an dieser Stelle gerne herangezogenen „Jojo-Effektes“ ist.
Damals war mir das jedoch nicht bewusst, bzw. ich habe es nie so realisiert. Ich wusste nur, dass ich mich nun solange eingeschränkt hatte und am Ende nichts dabei rumgekommen war und den Gedanken, dass ich selber schuld daran war, wollte ich erst gar nicht zulassen, schließlich hatte ich alles richtig gemacht (mit dem Kalorienzählen). Ich hielt daran fest, dass Kalorienzählen für mich nichts sei und redete mir gefrustet ein, dass ich mich nie wieder diesem Diktat unterwerfen wollte und überhaupt: nur Essgestörte zählen Kalorien.
Was mir auf verquere weise ins Konzept „Kalorienzählen überhaupt und grundsätzlich abzulehnen“ passte, da ich „Essgestört“ für mich in Anspruch nahm und so eine gute Erklärung, oder soll ich sagen eine tolle Ausrede, parat hatte, für all die Kilos, die ich wieder zunahm (und noch zunehmen sollte).
Ich beförderte meine Kalorientabellen in den Müll und fing an Anti-Diät-Bücher zu lesen, die damals im Zuge der Frauenbewegung gerade groß in Mode waren. Amüsanterweise – und es zeigt mir, dass ich doch nie so ganz mit dem Kalorienzählen gebrochen habe – meine Ausgabe von „Kalorien mundgerecht“ habe ich über die Jahre hinweg behalten.
Wer meinen Blog verfolgt, erinnert sich vielleicht dass ich Ende 2015 meine „Anti-Kalorienzähl-Haltung“ immer noch nach außen gepflegt habe, nach innen hatte sich aber schon damals angefangen etwas zu verändern.
Und das mag möglicherweise am Kohlenhydratezählen liegen. Und wenn man auf die eine Zahl der Nährwerte schaut, oder sagen wir mal auf drei Zahlen, Fett und Protein spielen ja auch eine Rolle, schaut man unweigerlich auch auf die letzte (relevante) Zahl, die Kalorienangabe.
Da es mir jedoch vordergründig nur um Kohlenhydrate ging und gleichzeitig Kohlenhydratezählen für mich sehr einfach war/ist, weil es mir leicht fällt sie einzusparen, konnte ich derweil die Kalorienangaben völlig wertfrei betrachten.
Vielleicht ist das alles weit hergeholt, doch ich habe das Gefühl, dass sich mein unproblematischer und entspannter Umgang mit dem Kohlenhydratezählen und die wertfreie Betrachtung der Kalorien sich letztendlich wohlwollend auf das Kalorienzählen im Allgemeinen übertragen hat. Und vielleicht hat mein Hinterkopf die gute und erfolgreiche Erfahrung, damals mit dem Kalorienzählen, doch fester gespeichert als ich je vermutet hätte und sie als positiv reaktiviert.
Ich finde Kalorienzählen immer noch lästig, ich weiß aber heute auf ganz rationale Weise, dass ich keine Alternative habe und auch dieses Werkzeug nutzen muss. Was mir heute dabei hilft, ist das oben bereits erwähnte Wissen um die Problematik im Umgang mit Energie-Rechner, Kalorienangaben und Kalorienzählen. Denn nichts zerstört einen Mythos, zu dem ich Kalorienzählen so lange gemacht hatte, so nachhaltig, wie kritisches Hinterfragen.
Es ist eine Tatsache (die ich glücklicherweise endlich für mich akzeptiert habe), dass ich ein Esser bin, der große Mengen essen kann, dessen Appetit durchs nichts zu erschüttern ist, der sich grundsätzlich in der tatsächlichen Menge unterschätzt, die er gegessen hat und sich immer wieder auf tragik-komische Weise selber zu bescheißen weiß, wenn es um das geht, was so täglich durch mein Verdauungssystem wandert. Wohin es mich führt, wenn ich es einfach „laufen lassen“, intuitiv esse und auf Hunger/Sättigung hören, kann man auf meinen Fotos von Ende 2013 sehen.
Das ergibt absolut Sinn, wenn ich mein Essverhalten mit dem meines Sohnes vergleiche, der natürlich schlank ist und tatsächlich ein intuitiver Esser. Anders als ich gleicht er auf natürliche Art und Weise seine Mahlzeiten im Durchschnitt wieder aus und wenn er mal bei einer Mahlzeit so richtig zugelangt hat, weil es ihm gut geschmeckt hat oder er richtig Hunger hatte, kann man davon ausgehen dass er die nächste Mahlzeit (und dann kann ich ihm die leckersten Sachen vorsetzten) garantiert weniger essen wird, weil er (nach dem üppigen Mahl) noch gar nicht wieder so hungrig ist. Ich kann JEDE Mahlzeit verputzen und lange IMMER kräftig zu.
Es wäre zweifellos ein Traum, wenn ich eines Tages Hunger und Sättigung als Werkzeuge nutzen und wie mein Sohn meine Essensmenge intuitiv regulieren könnte, aber für den Moment, wo ich zum einen noch weiter abnehmen will und ich zum anderen bisher ja auch überhaupt keine Erfahrung habe, was ich so als normalgewichtige Frau essen kann, um mein Gewicht halten, wäre es schlicht dumm, nicht alle Werkzeuge zu nutzen, die mir dafür zur Verfügung stehen.