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HungerMonster

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Hunger zu fühlen, Hunger zu haben, ihn sich einzugestehen und zuzulassen, ist für mich ein höchst problematisches und sehr gestörtes Thema. Eines das mich schon so lange begleite, dass ich automatisch angefangen hatte, diesen Beitrag in der Gegenwart zu formulieren: ich habe eine gestörte Wahrnehmung von Hunger.

Doch dann ist mir klar geworden, dass ich das hier alles nur in Worte fassen kann, weil ich bereits angefangen habe, meine Beziehung zu Hunger zu hinterfragen. Zwar arbeiten wir beide immer noch nicht harmonisch zusammen, der Hunger und ich, doch in letzter Zeit erkenne ich einen Wandel in meinem Umgang damit.

Um diese positive Entwicklung zu unterstreichen, habe ich beschlossen, im Folgenden meine Gedanken in der Vergangenheitsform zu notieren: ich hatte eine gestörte Wahrnehmung von Hunger, doch diese ist ein einem Wandel begriffen.

Wie ist euer Verhältnis zu Hunger?

Ich hatte zuletzt die Gelegenheit mit der Adipositas-Selbsthilfegruppe meine Gedanken über Hunger zu teilen. Interessant war, dass zwar alle über Heißhunger-Attacken zu berichten wussten und davon, lediglich eine sehr diffuse Bedeutung von Hunger im Allgemeinen zu haben, doch nach eigenen Aussagen sich keiner für Hunger zu haben schuldige fühle – wie es mir ergeht.

Das Monster Heißhunger sei es, was den meisten Angst mache. So wurde berichtet, dass das man bis zum Abend ganz gut funktioniere. Man könne sich prima den Tag über „zurückhalten“, sei abgelenkt, habe zu viel zu tun, um ans Essen zu denken. Erst abends, wenn man die Anspannung des Tages nachlasse und man bequem vor dem TV säße, dann gehe es los.

Mir ging es auch einst so. Doch das ist in (strikten) low carb Zeit Vergangenheit. Kohlenhydrate machen nun mal Hunger auf mehr. Wenn wir uns zudem „den ganzen Tag über zurückhalten“ und uns dabei lediglich mit ein paar Kohlenhydraten füllen, fehlt es uns früher oder später an Nährstoffen (wie Protein und Fett) und an Kalorien. Vielleicht schieben wir ja auch, wie ich, Mahlzeiten vor uns her, lenken das Monster Heißhunger mit einer Zigaretten-Pause ab oder beruhigen es mit Snacks; auch eine Variante, die mir sehr bekannt vorkommt.

Und all das bricht am Abend, wenn wir angreifbar sind, weil müde und erschöpft vom Tag, über uns herein. Dann sehen wir uns einem übermächtigen Feind gegenüber, dem wir nichts mehr entgegenzusetzen haben. Einfach weil wir unseren „steinzeitlichen“ Körper bewusst ausgehungert haben. Einen Körper der nicht weiß, dass es aktuell keine Hungersnot zu befürchten ist, sondern dass das nur unsere selbstgewählte Strategie von Ernährungs-Management ist. Kein Wunder, dass in der Folge, da so einiges in der Maschinerie schiefläuft.

Ein ebenso mächtiges Problem habe ich mit Gewohnheit. So wie die anderen vor dem TV essen, was ebenfalls die Frage der Gewohnheit ist, so snacke ich beim Kochen. Kaum bin ich in der Küche erwartet mein Körper, dass er etwas zu kauen bekommt, ob ich nun Hunger habe oder nicht. Auch wenn ich damit in (strikten) low carb Zeiten sehr viel entspannter durchkomme, ist und bleibt es eine teuflische Gewohnheit, die viel leichter gekommen ist, als zu gehen bereit.

Was Hunger für mich bedeutet

In der Vergangenheit bin ich davon ausgegangen, dass ich irgendwie kaputt bin, disziplinlos, willensschwach, weil ich dem Hunger, der in mir getobt hat, nie Einhalt gebieten konnte, immer am Essen war und mich nie satt gefühlt habe.
Vergleiche mit, oder Ermahnungen von, anderen „Reiß dich doch mal zusammen“, “lass einfach mal eine Mahlzeit aus“, „du musst doch jetzt satt sein“ oder „du hast doch eben erst etwas gegessen“, haben dafür gesorgt, dass ich meinen Selbstwert, der eh schon gering angesetzt war, noch mehr in Zweifel gezogen habe.

Hunger zu haben war gleichgesetzt mit willenlos und disziplinlos zu sein. Ich war nicht artig, kein gutes Kind, wann immer ich dem Hunger zugestanden oder ihm nachgegeben habe. Irgendwann habe ich mir gar nicht mehr getraut Hunger wahrzunehmen, nicht vor anderen und nicht vor mir selbst. Hunger zu haben wurde zum Charakterfehler, was dazu geführt, dass ich ihn verlernt habe.

Einen ersten kleinen Eindruck von Hunger und Sättigung, auf der körperlichen Ebene, habe ich erfahren, als ich 2014 mit der low carb Ernährung angefangen habe. Doch bereits ein halbes Jahr später ändertet sich die komplette Situation mit meiner Adipositas-OP und meinem Schlauchmagen. Ich hatte die ersten 1,5 Jahre nach OP überhaupt keinen Hunger mehr, oder sagen wir mal, das was ich bisher als Hunger empfunden hatte, war komplett verschwunden.

Ich war also zunächst einmal erlöst von dem Thema Hunger. Und es war eine großartige Erfahrung. Aber leider nur die Ruhe vor dem Sturm. Essen verlief vor allem nach Zeitplan und Menge, wobei, wie ich heute weiß, auch meine kohlenhydrat-armen Ernährung hat ihren Teil dazu beigetragen, endlich Ruhe im Kopf zu haben. Ich hatte mir angewöhnt 4-5 Mahlzeiten täglich zu essen, mich also kontinuierlich mit Energie zu versorgen. Im Zusammenhang mit meiner kohlenhydrat-armen Ernährung und meinem frisch-operierten Schlauchmagen hat das für mich auch hervorragend für mich funktioniert.

Doch im 3. und 4. Jahr nach OP, als ich wieder mehr essen konnte (eine erwartungsgemäße Dehnung des Magens im Rahmen der OP) und schleichend zu meinen alten Essgewohnheiten zurückgekehrt war (mehr Kohlenhydrate), hatten sich diese 4-5 Mahlzeiten bereits tief in meine Gewohnheiten gegraben. Was einst gut funktioniert hat, wurde nun zum Problem. Das Ergebnis: eine Zunahme von 30 kg.

Und mein Hunger und die Sättigung? Nun mit der Sättigung konnte ich mich nach wie vor den Dehnungs-Reiz von meinem Schlauchmagen verlassen, doch der drängende Hunger in meinem Kopf und damit die negative Besetzung von Hunger war wieder zurück.

Kohlenhydrate machen etwas mit mir ….

… was Fleisch, Eier und Butter nicht macht.

Heute weiß ich, dass mein Hungergefühl auf der hormonellen Ebene erneut nicht richtig funktioniert hat. Erst als ich Anfang 2020 wieder ins low carb eingestiegen und im Sommer dann zu einer ketogenen Ernährung gewechselt bin, hatte ich wieder Ruhe im Kopf.

Rückblickend gesehen hat diese Rückkehr erschreckend lange gedauert und war ausgesprochen hart, was mir zeigt, welchen Schaden ich mir mit 2 Jahren Rückkehr zu high carb zugefügt habe. Mit meinem heute deutlich erweiterten Wissen um meine Probleme mit Kohlenhydraten, ohne unter dem Eindruck des Honeymoons einer frischen Adipositas-OP zu stehen, ist der Knoten also endlich geplatzt.

Kohlenhydrate machen etwas mit mir auf körperlicher Ebene und meine negativ besetzte Wahrnehmung von Hunger befördert das Problem noch. Kurz gesagt, ich bin – unter einer Standard-Ernährung – ein mangelernährter, essgestörter Kohlenhydrat-Abhängiger. Die Lösung: Kohlenhydrate raus, Mangelernährung beheben und Hunger erlernen.

HALT!

Für mich ist also eine sehr Kohlenhydrat-arme Ernährung obligatorisch. Aber mehr noch möchte ich daran arbeiten mir HALT vor Augen zu führen, um noch besser mit Gewohnheiten (wie dem Snacken in der Küche beim Kochen), Ärger oder Stress (weitere Faktoren, die bei mir unkontrollierte Essensentscheidungen befördern) umgehen zu können.

H ungry?
A ngry?
L onley?
T ried?

Ist das der Fall, dann bin ich gerade nicht in der Lage die richtige Essensentscheidung zu treffen. Innehalten und durchatmen. Gefühle sortieren. Gedanken formulieren.

Im weiteren hat es sich für mich als nützlich erwiesen, mir zu sagen, dass ich auch in Situationen von Stress, Ärger oder Gewohnheit etwas essen darf (ich gebe mir die Erlaubnis eine weitere Mahlzeit zu essen), die Auswahl muss sich jedoch im Rahmen meiner Ernährung (low carb) und einer Mahlzeit (darf nur sitzend am Esstisch genossen werden) bewegen. Wenn ich also keine Eier mit Speck oder Huhn mit Brokkoli essen will und mir nicht die Zeit nehmen will, mich dafür an den Tisch zu setzten, dann kann ich schon einmal mit Sicherheit sagen, dass es kein körperlicher Hunger ist, der mich treibt.

Notiz an mich: Hunger ist nicht der Feind!

Nur wie ich über ihn denke ist, feindlich, so hat es der Arzt Dr. Ken Berry formuliert. Und ich stimme damit ihm zu. Hunger, dieses unbestimmte Gefühl in der Magengegend, die leichte Zerschlagenheit, der Wunsch nach neuer Energie, zeigt uns an, dass wir Nährstoffe brauchen. Dazu müssen wir essen. Hunger zu haben ist ein natürlicher, gesunder und guter Vorgang. Zu denken, dass Hunger zu fühlen eine Schwäche ist, führt uns direkt in die Abhängigkeit/Sucht.
Aussagen, die mich noch lange beschäftigen werden.

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